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#FREE_ABDUL – AUFRUF ZU PROTEST UND PROZESSBEOBACHTUNG

BLACK COMMUNITY COALITION FOR JUSTICE & SELF-DEFENSE

Hamburg, 12. August 2020

Ein 24-jähriger Afrikaner erlitt erst eine schwere Kopfverletzung im Rahmen einer polizeilichen Maßnahme im Februar 2020 – nun wurde er kürzlich in der Untersuchungshaft am Holstenglacis von Justizvollzugsbeamten misshandelt und erneut am Kopf verletzt.

Wir, die Black Community Coalition for Justice & Self-Defense sind besorgt über die wiederholten gefährlichen Körperverletzungen, die an unserem Bruder Abdul begangen werden. Die körperliche Unversehrtheit und das Leben von Schwarzen Menschen werden in Hamburg immer wieder von Polizisten und auch durch Justizvollzugsbeamte in verantwortungsloser und menschenverachtender Art und Weise gefährdet.

Bruder Abdul wurde im Rahmen einer polizeilichen Maßnahme im Februar am Schanzenpark eine schwere Kopfverletzung mit Schädelbruch und Hirnhautblutung zugefügt, die operativ notversorgt werden musste. Nun ist er am Montag, den 3.August 2020 in der Untersuchungshaft von einem Justizvollzugsbeamten erneut am Kopf verletzt worden – genau an der Stelle, die vorher operiert worden war.

#BlackLivesMatter – auch bei Polizeieinsätzen und in Gefangenschaft!

Um das Leben und die Gesundheit unseres Bruders Abdul besser zu schützen, rufen wir zum öffentlichen Protest bei den zuständigen Behörden der Gefängnisverwaltung und der Justizsenatorin Anna Gallina (Bündnis 90 – Die Grünen) sowie zur Prozessbeobachtung des laufenden Gerichtsverfahrens gegen Bruder Abdul vor dem Amtsgericht Hamburg auf:

Freie und Hansestadt Hamburg – Untersuchungshaftanstalt Hamburg

Holstenglacis 3
20355 Hamburg

Telefon: 040 42829-0 , Fax: 040 42829-345, E-Mail: uhpoststelle@justiz.hamburg.de

 

Behörde für Justiz und Verbraucherschutz

Besucheradresse:                                     Postadresse:

Drehbahn 36                                             Postfach 30 28 22
20354 Hamburg                                        20310 Hamburg

Telefon: 040 40-115, Fax: 040 4273-13245, E-Mail: poststelle@justiz.hamburg.de

 

Nächste Prozesstermine am Amtsgericht Hamburg, Sievekingplatz 3 (Strafjustizgebäude):

21. August 2020 – 09 Uhr (Sprungtermin – nur 15min) – Saal 267

28. August 2020 – 09 – 16 Uhr – Saal 267

09. September 2020 – 11 – 12 Uhr – Saal 297

22. September 2020 – 09 – 16 Uhr – Saal 297

(Änderungen der Termine und Räumlichkeit gerichtlich vorbehalten)

 

Black Community Coalition for Justice & Self-Defense

Kontakt: black_community_hamburg@riseup.net

Sister Oloruntoyin +49157-85508102

Brother Mwayemudza +49176-99621504

Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist ein unglaublicher Justizskandal

OFFENER BRIEF AN DIE HAMBURGER ZIVILGESELLSCHAFT

BLACK COMMUNITY COALITION FOR JUSTICE & SELF-DEFENSE

Hamburg, 11. August 2020

Wie wir heute Abend erfahren mussten, hat die Staatsanwaltschaft Hamburg das lange verschleppte Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Fall unseres Bruders Tonou-Mbobda ohne Erhebung einer Anklage einfach eingestellt.

Es ist nun bald ein Jahr und 4 Monate her, dass Bruder Tonou Mbobda im UKE getötet wurde – einem Ort, an dem er während einer psychischen Erkrankung Zuflucht und Heilung suchte. Zum Zeitpunkt des Angriffs saß er ruhig auf einer Bank, zum Zeitpunkt des Angriffs war er weder bewaffnet noch gewalttätig. Wir glauben, dass Bruder Tonou Mbobda, wenn er weiß gewesen wäre, anders behandelt worden und heute noch am Leben sein könnte.

Wie konnte Bruder Tonou-Mbobda im UKE sterben? Wir müssen die Wahrheit erfahren.

Es ist nun bald ein Jahr und 4 Monate her und die Fragen der Familie, warum der Sohn, Bruder und Cousin William Tonou-Mbobda getötet wurde, sind immer noch unbeantwortet. Das ist ein anhaltendes Trauma. Gleichzeitig aber ist es wiederkehrende Realität tagtäglicher Erfahrung von rassistischer Brutalität und Verachtung für das Leben Schwarzer Menschen in Deutschland, dass diese immer wieder offensichtlich straffrei getötet werden dürfen. Die unfassbare Einstellung des Ermittlungsverfahrens im Angesicht der aktuellen weltweiten Massenproteste der #BlackLivesMatter-Bewegung auch hier in Deutschland und auch hier in Hamburg ist ein Schlag ins Gesicht der trauernden Familie, unserer Black Community hier in Hamburg und weltweit. Sie zeigt einmal mehr eindrücklich, wie berechtigt und notwendig diese Massenproteste sind und bleiben, weil Schwarze Leben auch hier in Deutschland weder zählen, noch einer angemessenen Strafverfolgung würdig erscheinen!

Institutioneller Rassismus und strukturelle Gewalt sind in allen öffentlichen Institutionen so tief verwurzelt, dass selbst in einem führenden Universitätskrankenhaus wie dem UKE ein Schwarzer Patient einfach so und ohne strafrechtliche Konsequenzen getötet werden darf. Wenn die Männer des Sicherheitsdienstes und das Pflegepersonal die damalige Situation im Einklang mit geltenden Richtlinien (insbesondere der S3-Richtlinie der DGPPN zur Vermeidung von Zwang) und unter vorgeschriebener ärztlicher Aufsicht behandelt hätten, wäre Bruder Tonou-Mbobda heute vielleicht noch am Leben.

Die Vertuschungen und Ausreden, die Verschleppung und anhaltende Straffreiheit im Fall Tonou-Mbobda erinnern uns an die vielen Fälle von Oury Jalloh bis Mareame N´deye Sarr in Deutschland, Adama Traoré und Wissam El Yamni in Frankreich, Rocky Bennett und Stephen Lawrence im Großbritannien und viele andere mehr. All diese schrecklichen Vorfälle sind Belege für strukturellen Rassismus und seine systematische Leugnung.  

Unsere Geduld ist am Ende. Genug ist Genug!

Wir fordern Gerechtigkeit, Verantwortung und Rechenschaftspflicht in allen Belangen

Inoffizielle Entschuldigungen und geheuchelte Anteilnahme haben schon vor der unsägliche Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht ausgereicht. Die Institutionen müssen Verantwortung übernehmen und mit jener Last, die wir Schwarzen so lange er- und mittragen müssen, endlich angemessen umgehen. Stattdessen werden sie sich nun bestätigt fühlen in ihrer menschenverachtenden Einschätzung „Alles richtig gemacht“ zu haben, wenn sie einen Schwarzer Menschen getötet haben. Wir sind es leid, aus Menschenverachtung sterben zu müssen. Wir sind es leid, dass Strafverfolgung systematisch unterbunden wird. Wir sind es leid, dass genau dadurch nichts geändert wird. Wir sind es leid, dass Weiße Angestellte und Polizisten ungestraft töten dürfen.

Bruder Tonou-Mbobda‘s Tod darf nicht straffrei bleiben!

Sein Leben darf nicht wegen des Machtmissbrauchs einiger Verantwortlicher entwertet werden.

Wir werden uns nicht zum Schweigen bringen lassen und wir sind nicht allein. Die ganze Welt wird von diesem Fall erfahren und sehen, wie ignorant damit umgegangen wird. Wir sind solidarisch mit der Familie, die diese Folter des Wartens nun noch länger ertragen muss und wir verurteilen die Staatsanwaltschaft Hamburg für die unverantwortliche Einstellung der Strafverfolgung ohne gerichtliche Beweiserhebung.

Wir fordern Gerechtigkeit!

Es ist an der Zeit, das ungestrafte Töten von Schwarzen Menschen endlich zu beenden

Es ist an der Zeit, Bruder Tonou Mbobda Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ohne die Anerkennung und Einordnung der ganzen Wahrheit, kann es keine Gerechtigkeit geben!

Wir fordern die Hamburger Bürgerschaft und Zivilgesellschaft zum Handeln auf:

– Fordern Sie gemeinsam mit uns eine Anklageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft im Fall Tonou-Mbobda ein!

– Sorgen Sie mit uns gemeinsam für die Einrichtung eines unabhängigen, von der Zivilgesellschaft getragenen Ausschusses zur Untersuchung aller Handlungen und Unterlassungen, die zum gewaltsamen Tod von Bruder Tonou-Mbobda geführt haben.

– Sorgen Sie mit uns gemeinsam für ein Verbot von potentiell tödlich endenden Zwangsfixierungen in Bauchlage in der Psychiatrie sowie in der Polizeipraxis und bei Sicherheitsdiensten.

– Sorgen Sie mit uns gemeinsam für mehr und angemessenere Schulungen zu Deeskalation und gewaltfreien Interventionen für Polizeibeamte und städtisches Sicherheitspersonal mit der gesetzlichen Berechtigung zur Anwendung von sogenanntem einfachem(!) Zwang.

Wir rufen Sie dazu auf, die wichtige Arbeit zu leisten und unseren Communities zuzuhören!

Wir rufen Sie auf, dafür Sorge zu tragen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, damit der Schutz und die Sicherheit der Menschen im Mittelpunkt stehen und rassistisches Profiling und alle Fälle rassistischer Brutalität effektiv unterbunden werden können.

Der Tod von Bruder Tonou Mbobda ist ein Symbol für ein System, das sich endlich ändern muss!

Unser tiefes Mitgefühl gilt der Familie Tonou-Mbobda. Wir stehen ihnen in ihrem Kampf für Gerechtigkeit an ihrer Seite.

Black Community Coalition for Justice & Self-Defense

Kontakt: black_community_hamburg@riseup.net

Sister Oloruntoyin – mobil: +49157-85508102

Brother Mwayemudza – mobil: +49176-99621504

Warum sehen Sie eigentlich keinen Rassismus?

ZEIT ONLINE vom 29. Juli 2020

Rassismus: „Je schwärzer eine Person, desto eher wird Sorgfalt vernachlässigt“

EN: Why you cannot see racism at all?

William Tonou-Mbobda starb im UKE, nachdem man ihn fixiert hatte. Im Interview erklären Schwarze Aktivisten, warum sie das für institutionellen Rassismus halten.

Interview: Félice Gritti

https://www.zeit.de/hamburg/2020-07/rassismus-psychiatrie-patient-sicherheit-hamburg/komplettansicht

Vor mehr als einem Jahr starb der Psychiatriepatient William Tonou-Mbobda, nachdem der Sicherheitsdienst des UKE ihn fixiert hatte. Der Vorfall ist bis heute nicht gerichtlich geklärt, die Ermittlungen dauern an. Die Black Community Coalition for Justice and Self-Defense, eine Gruppe von Schwarzen Aktivistinnen und Aktivisten, wertet den Fall als Beispiel für institutionellen Rassismus. Wir haben mit Oloruntoyin Manly-Spain und Mwayemudza Ndindah über die Vorwürfe gesprochen, die sie erheben – und darüber, was der Fall für sie persönlich bedeutet. Auf eigenen Wunsch treten die beiden im weiteren Verlauf dieses Interviews unter den Namen „Sister Oloruntoyin“ und „Brother Mwayemudza“ auf; hierbei handele es sich um aktivistische Namen.

ZEIT ONLINE: Sie drängen seit mehr als einem Jahr auf die Aufklärung des Todes von William Tonou-Mbobda, der im UKE starb, nachdem Sicherheitsleute ihn fixiert hatten. Sie sehen in dem Fall Rassismus. Wo genau?

Sister Oloruntoyin Manly-Spain: Es ist wichtig, zu differenzieren: Wir meinen institutionellen Rassismus, nicht interpersonellen. Hinter institutionellem Rassismus steht nicht notwendigerweise eine Absicht, er hat mit unbewussten Glaubenssätzen zu tun, schafft aber Strukturen, die dazu führen, dass Schwarze Menschen schlechter behandelt werden. Auch in Krankenhäusern.

ZEIT ONLINE: Krankenhäuser stehen bislang nicht im Zentrum der Rassismus-Debatte.

Sister Oloruntoyin: Anfang der Neunzigerjahre starb ein junger Schwarzer Mann im englischen Broadmoor-Krankenhaus, anschließend wurde der sogenannte „Blackwood-Bericht“ angefertigt. Darin wurde eine Kultur innerhalb jenes Krankenhauses beschrieben, die auf weißen europäischen Normen und Erwartungen beruhte. Dem Bericht zufolge ergab sich daraus eine subtile, insgesamt unbewusste Form des institutionellen Rassismus – die aber dennoch wirksam war und eine große Rolle gespielt hat in der Behandlung des Patienten.

ZEIT ONLINE: Woran machen Sie fest, dass es im Fall von William Tonou-Mbobda genauso lief?

Sister Oloruntoyin: Zunächst: Es gab bis heute keine offizielle Entschuldigung des UKE gegenüber der Familie von William Tonou-Mbobda. Das wäre das Mindeste gewesen, ist aber nicht der einzige Punkt. Laut Obduktionsbericht wäre William Tonou-Mbobda nicht gestorben, wenn er keinen Herzfehler gehabt hätte. Hätte es eine gründliche Aufnahmeuntersuchung gegeben, dann hätte man den Herzfehler früher entdeckt. Ein Herzfehler ist ein Risikofaktor – der sollte auch eine Rolle bei der Entscheidung spielen, ob man Zwang anordnet oder nicht. Und wenn man Zwang anordnet und ausübt, dann gibt es dafür bestimmte Regeln wie die S3-Leitlinie …

ZEIT ONLINE: … die unter anderem empfiehlt, dass liegende Menschen mit dem Gesicht nach oben fixiert werden sollten, was bei William Tonou-Mbobda offensichtlich nicht der Fall war …

Sister Oloruntoyin: … und das UKE hat diese Regeln in diesem Fall verletzt. Das können und wollen wir nicht einfach so akzeptieren.

Brother Mwayemudza Ndindah: Es gibt weitere Punkte. Der Bescheid über den Unterbringungsantrag, der nicht abgewartet wurde. Die Eigen- oder Fremdgefährdung, die nicht belegt wurde – wir haben nach dem Vorfall mit einer Ärztin gesprochen, William Tonou-Mbobda hat demnach niemanden angegriffen oder verletzt. Der Einsatz des Sicherheitspersonals erfolgte auch nicht im Beisein eines Arztes oder einer Ärztin. Dann hat die Staatsanwaltschaft das Institut für Rechtsmedizin am UKE mit der Obduktion beauftragt und der Institutsdirektor Professor Püschel hat diesen Auftrag angenommen – obwohl da ein Interessenskonflikt vorliegt. Zudem wurde William Tonou-Mbobdas Name nach unseren Informationen trotz Krankenkassenkarte bei der Aufnahme falsch geschrieben. Das hat später dazu geführt, dass seine Schwester die gesetzliche Betreuung für ihren Bruder nicht ausüben durfte.

ZEIT ONLINE: Das mag eine bedenkliche Häufung von Fehlern sein, aber ist es Rassismus?

Brother Mwayemudza: Das sind systemische Wirkmechanismen, die nicht zwingend an eine böswillige Intention der Einzelnen gekoppelt sind. Aber genauso funktioniert Rassismus – und das meinen wir, wenn wir von Institutionalisierung von Rassismus sprechen. Diese Fehlerketten sind nur möglich, wenn es um eine Person mit geringer Bedeutung geht, und je schwärzer eine Person ist, umso eher ist das eben der Fall. Umso eher werden Sorgfalt und Standards vernachlässigt.

„Insgesamt läuft etwas falsch im Zwangspsychiatriesystem“

ZEIT ONLINE: Dennoch würden viele Leute wohl entgegnen: All das hätte auch einem weißen Menschen passieren können.

Brother Mwayemudza: Dieses Argument weist ja nur darauf hin, dass da insgesamt etwas falsch läuft im Zwangspsychiatriesystem. Und es schließt andererseits nicht aus, dass in diesem konkreten Fall institutioneller Rassismus eben auch eine Rolle gespielt hat. Es gibt verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass Menschen weniger Sorgfalt walten lassen, weniger Aufmerksamkeit üben, weniger Empathie zeigen – institutioneller Rassismus ist nicht der einzige, aber einer dieser Faktoren. Die Debatte krankt daran, dass diese Art von Rassismus nicht anerkannt wird, verleugnet wird.

Sister Oloruntoyin: Wenn rassistische Vorurteile gegen Schwarze aber nicht anerkannt werden, sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene, dann lassen sich die Ungleichheiten kaum angehen, die im Gesundheitsbereich herrschen, insbesondere im Bereich der psychischen Gesundheit. Es bräuchte landesweite Programme zur kulturellen Sensibilisierung von Klinikpersonal, verbunden mit Antirassismus- und Deeskalationstrainings. Dabei müssen auch die Schwarzen Communitys miteinbezogen werden.

ZEIT ONLINE: Aber noch einmal die Nachfrage: Worauf gründet sich Ihre Überzeugung, dass im Fall von William Tonou-Mbobda nicht nur Fehler begangen wurden, sondern Rassismus gewirkt hat? Gehen Sie grundsätzlich davon aus, dass in allen Institutionen Rassismus wirkt?

Brother Mwayemudza: Gegenfrage: Belegen Sie die Abwesenheit von Weißem Überlegenheitsdünkel, wenn – wie im vorliegenden Fall – gleich reihenweise Unterlassungen und Fehler gegenüber einem Schwarzen Patienten und dessen Familie begangen wurden, die im Widerspruch zu medizinischen Sorgfaltspflichten, zu bestehenden Leitlinien und zu einer vorgeblich verantwortungsbewussten Unternehmenskultur stehen? Rassismus wirkt systemisch und beruht auf der Überzeugung von der eigenen Überlegenheit, gegebenenfalls auch der eigenen Unfehlbarkeit – individuell wie institutionell. Die hier vorliegende Häufung von Fehlern zum Nachteil ein und desselben Patienten ist ohne einen entsprechend strukturellen Hintergrund einfach nicht zu erklären. Hinzu kommen das ignorante und respektlose Verhalten gegenüber der Schwarzen Familie und die absolute Fehlerblindheit nach dem Vorfall, obwohl das Handeln des UKE tödliche Konsequenzen hatte. Die Institution UKE hat hier auf allen Ebenen von der sorgfaltsfreien Aufnahmeuntersuchung über die unbeaufsichtigte, tödliche Zwangsanwendung bis hin zum kriminalisierenden Krisenmanagement auf Kosten des getöteten Patienten und dessen Angehörigen strukturell abwertend und damit rassistisch agiert.

Sister Oloruntoyin: Wenn wir ehrlich sind: Rassismus und die Idee der Weißen Überlegenheit sind die Grundlage aller Institutionen dieser deutschen Gesellschaft. Das ist nicht nur unsere subjektive Erfahrung, sondern auch ein Befund, der immer wieder von internationalen Gremien wie der UN-Expertengruppe zur Situation von Menschen Afrikanischer Herkunft beim Deutschland-Besuch 2017 oder in den regelmäßigen Berichten der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) über Deutschland – zuletzt im März 2020 – erhoben wird. Wenn wir von institutionalisiertem Rassismus sprechen, verlagern wir den Schwerpunkt darauf, wie Organisationen für oder gegen ethnische Minderheiten arbeiten und wie die Dienste dieser Institutionen von uns erlebt werden. Dabei geht es um systematische Diskriminierungen und strukturell benachteiligende Handlungsweisen. Die verbreitetste Form „Weißer Vorherrschaft“ sind nicht offen faschistische Neonazi-Gruppen, sondern die stille Übereinkunft der Mehrheitsgesellschaft, Weiße Interessen zu privilegieren.

ZEIT ONLINE: Wie ermüdend ist es für Sie, diese Debatte zu führen?

Brother Mwayemudza: Wenn jemand nicht nachvollziehen kann, wie sich Rassismus anfühlt, weil er oder sie nicht von Rassismus betroffen ist, dann aber sagt: Rassismus gibt’s nicht – dann ist das eine Arroganz und Ignoranz, die bei den Betroffenen die ohnehin schon vorhandene Erfahrung verstärkt, weniger wert zu sein.

Horst Seehofer? „Dieser Mann ist ganz persönlich gestrickt“

ZEIT ONLINE: Neulich sagte der Bundesinnenminister Horst Seehofer, dass Rassismus in der deutschen Polizei nur in Einzelfällen vorkomme und es deswegen keine Studie dazu brauche.

Brother Mwayemudza: Horst Seehofer hat auch von der Migration als Mutter aller Probleme gesprochen und davon, die deutschen Sozialsysteme bis zur letzten Patrone gegen Zuwanderung zu verteidigen. Insofern kann man schon sehen, wie dieser Mann ganz persönlich gestrickt ist. Das ist das eine – das andere ist das Strukturelle: eben genau jene Verleugnung von Rassismus, sowohl des historischen als auch des gegenwärtigen, strukturellen. Daran beteiligt sich ja nicht nur Herr Seehofer, daran beteiligen sich auch Innenminister der Länder und große Teile der Polizei.

ZEIT ONLINE: Deutschland hält sich gern zugute, seine Vergangenheit aufgearbeitet zu haben. Was meinen Sie, wenn Sie von historischer Verleugnung sprechen?

Brother Mwayemudza: Rassismus wurde bereits vor dem deutschen Faschismus etabliert. Er ist entstanden als Rechtfertigungsideologie für den Kolonialismus, für Kolonialverbrechen. Diese Verbindung wird aber bis heute nicht hergestellt: Man tut so, als sei der Faschismus aus Braunau gekommen, historisch aus dem Nichts. Diese fehlende Verbindung hat dazu geführt, dass Kolonialismus und Rassismus in Deutschland nie wirklich aufgearbeitet wurden. Es fehlt eine Anerkennung dieses Erbes und der Tatsache, dass es genau deswegen deutlich mehr Rassistinnen als Faschisten gibt.

ZEIT ONLINE: Mit welchen Folgen für die Gegenwart?

Brother Mwayemudza: Solange es nicht anerkannt wird, wird auch nichts dagegen unternommen. Dann landen alle rassistischen Vorfälle eben in der Einzelfall-Schublade. Da wirkt ein Mechanismus, der sich in der Psychologie kognitive Dissonanz nennt – man verleugnet, damit man sich nicht ändern muss. Insofern sind die Äußerungen von Herrn Seehofer ein klassisches Beispiel dafür, wie Rassismus funktioniert: Verleugnung ist ein wesentlicher Teil seiner Reproduktion.

ZEIT ONLINE: Was heißt das für all jene, die von Rassismus betroffen sind?

Brother Mwayemudza: In der Verleugnung steckt Abwertung. Wenn man sagt, wir brauchen keine Studie zu Rassismus, etwa in der Polizei, dann sagt man damit ja auch: Die Leute, die von Rassismus betroffen sind, sind es nicht einmal wert, das Phänomen wenigstens zu untersuchen. Das ist dann offensichtlich ein System, das politisch gewollt ist: Menschen werden aufgrund ihrer Hautfarbe kriminalisiert oder gar misshandelt und getötet, aber die dafür Verantwortlichen müssen keine Konsequenzen fürchten, geschweige denn Strafen. Stattdessen wird die Polizei zum Opfer von Rassismus-Vorwürfen erklärt – das ist strukturelle Täter-Opfer-Umkehr. . .

ZEIT ONLINE: Zurück zu William Tonou-Mbobda: Was hat sein Tod für Sie persönlich bedeutet?

Sister Oloruntoyin: Der Fall hat uns gezeigt, dass wir als Schwarze Menschen nicht sicher sind. Als ich am Bett von William Tonou-Mbobda auf der Intensivstation des UKE stand, dachte ich an meine jüngeren Brüder. Ich sagte zu mir selbst: Das ist unglaublich! Wir Schwarzen wissen, dass die deutschen Institutionen rassistisch sind – und dennoch sind wir immer wieder schockiert über solche Vorfälle. Es ist schmerzhaft und traumatisch, dass dieser „tragische“ Fall, diese „Katastrophe“, wie Katharina Fegebank es im Wissenschaftsausschuss nannte, zu einer Geschichte gehört, die sich immer wieder wiederholt.

„Es ist lähmend, immer wieder auf Straflosigkeit warten zu müssen“

ZEIT ONLINE: An welche Vorfälle denken Sie, wenn Sie von dieser Geschichte sprechen?

Sister Oloruntoyin: Mareame Sarr und Christy Schwundeck wurden von deutschen Polizisten erschossen, Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle verbrannt, Achidi John starb im UKE durch einen gewaltsamen Brechmitteleinsatz. Wir denken auch an die Ermordungen von George Floyd, Breonna Taylor und vielen anderen in den USA. Wenn wir von solchen rassistischen Katastrophen heimgesucht werden, die der Weißen Mehrheitsgesellschaft offenbar ganz natürlich erscheinen, dann trifft uns das immer wieder sehr hart. Nach solchen Vorfällen ist es schwer zu schlafen. Es ist schwer, sich zu konzentrieren. Es dauert eine Weile, den Schock zu verarbeiten und wieder zur Ruhe zu kommen.

ZEIT ONLINE: Wie gehen Sie damit um?

Sister Oloruntoyin: Wir als Black Community Coalition for Justice and Self-Defense bieten psychosoziale Unterstützung an und stellen sichere Räume zur Verfügung, in denen Schwarze Menschen gemeinsame Traumata aufarbeiten können. Schwarze Menschen organisieren sich immer wieder, bekämpfen Rassismus seit mehr als 500 Jahren. Die Überwindung von systemisch wirkendem Rassismus ist aber letztlich die Aufgabe der Weißen Mehrheitsgesellschaft mitsamt ihren Behörden und Institutionen.

ZEIT ONLINE: Und wie kann aus Ihrer Sicht eine solche Überwindung gelingen?

Sister Oloruntoyin: Auf jeden Fall nicht ohne konsequente strafrechtliche Verfolgung in angemessenen Zeiträumen. Es ist lähmend, immer wieder auf Straflosigkeit warten zu müssen, auf den nächsten Justizirrtum. Denn auch das zeigt uns der Fall von William Tonou-Mbobda bisher: Es wird niemand unmittelbar zur Verantwortung gezogen, wenn institutionelles Handeln tödliche Konsequenzen hat.

ZEIT ONLINE: Die Staatsanwaltschaft würde wohl entgegnen: Die Ermittlungen dauern an.

Sister Oloruntoyin: Seit mehr als einem Jahr?! Es ist für uns schwer zu verstehen, warum es so lange dauert, Anklage zu erheben, in einem Fall, der sich am helllichten Tag vor Zeugen abgespielt hat. Und wenn es so lange dauert, dann würden wir wenigstens eine nachvollziehbare Erklärung erwarten.

Brother Mwayemudza: Es ist ja bekannt, dass die wesentlichen Ermittlungen bereits im Herbst letzten Jahres abgeschlossen waren. Noch immer ist keine Anklage erhoben worden. Für uns zeigt sich da wieder, welche Perspektiven offenbar unwichtig sind: die Perspektive der Familie von William Tonou-Mbobda, die Perspektive der Betroffenen.

ZEIT ONLINE: Fühlen Sie sich in der öffentlichen Debatte rund um den Fall gehört?

Brother Mwayemudza: Schwarze Stimmen sind gehört worden, das hat aber vor allem damit zu tun, dass wir von Anfang an diesen Fall aufgegriffen, öffentlich gemacht und skandalisiert haben. Die Vehemenz der Abwehrreaktionen hat uns nicht überrascht. Wir haben das böse R-Wort benutzt, den Rassismus benannt. Das war es nämlich: eine Benennung, nicht nur ein Vorwurf. Man wird dennoch systematisch in die irrationale Ecke gestellt.

ZEIT ONLINE: Meinen Sie damit, dass man Sie nicht ernst nimmt?

Brother Mwayemudza: Was das UKE sagt, was die Staatsanwaltschaft sagt, das wird so stehen gelassen. Das ist die offizielle Deutungshoheit. Was wir als Betroffene sagen, das wird in Frage gestellt: Wie kommen Sie dazu, das zu behaupten? Wo sehen Sie Rassismus? Dabei wären die Fragen umgekehrt ja genauso berechtigt und noch dazu zielführender: Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Und: Warum sehen Sie eigentlich keinen Rassismus?